Die häufigsten physiotherapeutisch relevanten Erkrankungen

 
Die am häufigsten auftretenden Erkrankungen in Unternehmen, die zu hohen Fehlzeiten führen, sind zum einen die Muskel- und Skeletterkrankungen und zum anderen die Erkrankungen des Herz-Kreislaufsystems. Durch beide Krankheitsformen kommen jährlich hohe Krankheitskosten zustande. Bei diesen Beschwerdebildern finden die psychischen und sozialen Risikofaktoren, die in der alltäglichen Arbeitswelt auftreten, eine immer größer werdende Beachtung. Bei den Muskel- und Skeletterkrankungen standen traditionell die physischen Belastungen, wie beispielsweise Heben und Tragen oder Zwangshaltungen im Vordergrund. Dagegen wurde die private Lebensführung als Ursache für Herz-Kreislauferkrankungen herangezogen. Beide Auffassungen mussten korrigiert und um den Einfluss arbeitsbedingter psychosozialer Stressoren erweitert werden. In der pathogenetischen Sichtweise geht man davon aus, dass diese psychosozialen Stressoren der Arbeitswelt und ihre Wechselwirkungen mit den bekannten Risikofaktoren eine große Bedeutung bei der Entstehung und für den Verlauf dieser Erkrankungen haben.
 
Muskel- und Skeletterkrankungen
 
Die Muskel- und Skeletterkrankungen verursachen in allen Branchen anteilsmäßig die meisten Fehltage. Auf die Behandlungskosten bezogen rangieren sie unter allen Krankheitsgruppen an dritter Stelle. Muskel- und Skeletterkrankungen verursachen insgesamt die meisten Arbeitsunfähigkeitstage und sind bei Männern der häufigste, bei Frauen der zweithäufigste Grund für gesundheitlich bedingte Frühberentung. Bei einer Umfrage des wissenschaftlichen Instituts der AOK ergaben sich folgende Ergebnisse. Muskuloskelettale Erkrankungen sind am weitesten verbreitet. Fast jeder zweite Befragte (47%) leidet häufig unter Rückenschmerzen. Erschreckend ist es, dass schon ein Drittel (33,6%) der Befragten unter 20 Jahren häufig über Rückenschmerzen klagt. Bei den 20 bis 29-Jährigen steigt der Anteil auf 40,7%. In der Altersgruppe der 40 bis 49-Jährigen leidet bereits jeder Zweite (50,4%) unter häufigen Beschwerden im Rückenbereich. An zweiter Stelle der gesundheitlichen Beschwerden wurden bei der Mitarbeiterbefragung Verspannungen und Verkrampfungen (37%) genannt, die oft mit den Rückenbeschwerden einhergehen. Mit steigendem Lebensalter nehmen Rückenschmerzen zu und erreichen typischerweise ihre maximale Prävalenz im fünften und sechsten Lebensjahrzehnt. In der Altersgruppe ab 60 Jahren geben 60% der Befragten an, häufig unter Rücken- und Gelenkschmerzen zu leiden. 22 % der Frauen und 15 % der Männer leiden an chronischen Rückenschmerzen, die mindestens drei Monate anhielten und sich täglich oder nahezu täglich bemerkbar machten. Dies ergaben Daten aus dem telefonischen Gesundheitssurvey von 2003:
 

Prävalenz von Rückenschmerzen (RS) und chronischen Rückenschmerzen bei Frauen in Deutschland
 

Prävalenz von Rückenschmerzen (RS) und chronischen Rückenschmerzen bei Männern in Deutschland
 
Überdurchschnittlich hoch war die Anzahl der Fehltage durch muskuloskelettale Erkrankungen im Baugewerbe, im verarbeitenden Gewerbe wie auch im Bereich Energie, Wasser und Bergbau. Diese Art von Erkrankung ist häufig mit langen Ausfallzeiten verbunden; die mittlere Dauer einer Krankmeldung mit dieser Diagnose lag zum Beispiel 2000 im Branchendurchschnitt bei 17,5 Tagen.
Es gibt sehr verschiedene Arten von möglichen Muskel- und Skeletterkrankungen, allerdings kommen in der Arbeitswelt am häufigsten zwei Arten von Symptomatiken vor. Dieses sind zum einen die Erkrankungen des Rückens und zum anderen die akutentzündlichen und arthrotischen Gelenkerkrankungen. Die Rückenerkrankungen werden in Wirbelsäulenschäden, Bandscheibenschäden, Erkrankungen des Nackens und in die „nicht näher bezeichneten Affektionen des Rückens“ unterteilt. In folgender Abbildung werden die fünf häufigsten gesundheitlichen Beschwerden dargestellt.
 

Die fünf häufigsten gesundheitlichen Beschwerden differenziert nach Geschlecht
 
Rückenschmerzen
 
Bei den Rückenerkrankungen nehmen die „unkomplizierten Rückenbeschwerden“ die wichtigste Rolle ein. Am Anfang steht die akute Phase mit starken Schmerzen und Bewegungseinschränkungen, diese klingt in ca. 90 Prozent der Fälle nach ungefähr zwei bis drei Wochen ab. Allerdings müssen mehr als 70 Prozent der Betroffenen mit Rückfällen rechnen. Von einem „chronischen Rückenleiden“ spricht man, wenn die Schmerzzustände nach mehreren einzelnen Episoden länger als drei Monate anhalten.
Die Risikofaktoren für die Entstehung und Chronifizierung der unkomplizierten Rückenbeschwerden sind:

1. Ein ungünstiger Krankheitsverlauf:

• Anhaltende und immer wiederkehrende Beschwerden
• Hinzukommen von Reizung und damit verbundenen Schmerzen der Nervenwurzeln

2. Psychosoziale Faktoren:
• Geringer Bildungsgrad
• Anhaltende Belastung und Sorgen im privaten Alltag und geringe soziale Unterstützung
• Angst, Depressionen und das Gefühl, immer krank zu sein
• Rentenwunsch

3. Arbeitssituation:
• Körperlich schwere Arbeit
• Nackenschmerzen: durch ungewöhnliche und einseitige Haltung, Tätigkeit am Bildschirm bzw. über Kopf
• Wiederholte einseitige Bewegungen, Ganzkörpervibrationen
• Arbeit in Umgebungen mit kalten oder stark wechselnden Temperaturen
• Monotone Arbeitsbelastung, hohe Arbeitsanforderung
• Wahrgenommene geringe Kontrolle über Arbeitsbedingungen und geringe Unterstützung von Kollegen und Vorgesetzten
• Geringe Arbeitszufriedenheit
• Unsicherer Arbeitsplatz und damit drohende Arbeitslosigkeit.

Der Auslöser für den Großteil der auftretenden Rückenschmerzen sind einseitige Belastungen, schwere körperliche Arbeit, Mangel an Erholungspausen sowie eine schlechter Trainingszustand. Psychische Belastungen wie beispielsweise Stress, Unruhe, Unzufriedenheit und die Angst vor Arbeitsplatzverlust führen zu Verspannungen der Muskulatur und machen dadurch den Bewegungsapparat empfindlicher gegenüber körperlichen Belastungen. So sind zum Beispiel sitzende Tätigkeiten und Bildschirmarbeitsplätze besonders abträglich für Schulter, Hals und Rücken.

Um den Rückenleiden vorzubeugen, gibt es im Bereich der betrieblichen Gesundheitsförderung diverse Möglichkeiten. Stößel und Michaelis (2001) beschreiben vier Interventionsmöglichkeiten:

1. Rückenschulprogramme
2. Vermittlung von Arbeitstechniken und ergonomiebezogenes Training
3. Allgemeines Fitness- und Muskeltraining
4. Ergonomische Arbeitsplatzgestaltung.

Eine stetige sportliche Betätigung kann das Auftreten von Rückenleiden verhindern oder zumindest deren Verlauf positiv beeinflussen. Daraus kann man den Grund für die Rückenschule als häufigstes Präventionsprogramm erkennen. Ein Rückenschulprogramm bietet Information, Verhaltenstraining für rückengerechtes Arbeiten und das Erlernen von Hebe- und Tragetechniken. Die Rückenschule wird in Gruppen durchgeführt. Hauptziel dabei ist es, den Teilnehmern Möglichkeiten aufzuzeigen, wie sie ihre Wirbelsäule entlasten können und ihre wirbelsäulenstabilisierende Muskulatur kräftigen können.
Rückenschulen, die ohne Bezug zum Arbeitsumfeld durchgeführt werden, verbessern das theoretische Wissen, aber nicht die Beschwerden und die Funktionsfähigkeit der Teilnehmer. Daher ist es von großer Bedeutung, dass die Rückenschulkurse dem Arbeitsplatz individuell angepasst werden.

 
Herz-Kreislauferkrankungen
 
Herz-Kreislauferkrankungen stellen neben den Muskel- und Skeletterkrankungen einen weiteren großen Problembereich bei den Erkrankungen im Arbeitsleben dar. Herz- und Kreislauferkrankungen bringen, ebenso wie die Muskel- und Skeletterkrankungen, oft lange Ausfallzeiten mit sich. Es ist dabei ein deutlicher Anstieg der darauf zurückgehenden Fehlzeiten bei Arbeitnehmern ab 45 Jahren zu verzeichnen.
Der akute Myokardinfarkt und die chronische ischämische Herzerkrankung sind mit durchschnittlich 85,5 und 117,8 Sterbefällen pro 100.000 Einwohner die häufigste Todesursache in Deutschland (alle Altersklassen, beide Geschlechter, Statistisches Bundesamt 2001).

Herz-Kreislauferkrankungen verursachen die höchsten Behandlungskosten, wobei vor allem die koronare Herzkrankheit und der Schlaganfall zu Buche schlagen. Circa 21 Prozent der Deutschen sterben an den akuten oder chronischen Folgen einer Herzkranzgefäßerkrankung. Männer aller Alterstufen sind dabei stärker gefährdet als Frauen, für diese erhöht sich die Gefahr erst nach der Menopause. Bei Schlaganfällen ist das Risiko für Männer und Frauen gleichen Alters annähernd gleich groß. Alle kardiovaskulären Erkrankungen zusammengenommen machen rund fünfzig Prozent der Todesursachen aus. Zwei Drittel aller Männer und mehr als die Hälfte der Frauen über vierzig Jahre sind mit Risikofaktoren wie beispielsweise Tabakrauchen, erhöhte Cholesterinwerte, Übergewicht oder Bluthochdruck behaftet. Sie tragen damit ein erhöhtes Risiko, am Herz zu erkranken. Trotz allem sind die Herzinfarktsterblichkeit und die Sterblichkeitsraten durch Schlaganfälle in den letzten Jahren deutlich gesunken.

Weitere Risikofaktoren sind:

1. Biomedizinische Risikofaktoren:
• Alter und Geschlecht
• Familiäre (genetische) Disposition
• Erhöhte Cholesterinwerte
• Hypertonie (Bluthochdruck)
• Diabetes mellitus
• Übergewicht

2. Verhaltensbedingte Risikofaktoren:
• Bewegungsmangel
• Gefahrensportarten
• Fehlernährung
• Tabakrauchen

3. Umweltbedingte Risikofaktoren:
• Soziale Isolation
• Belastende Arbeits- bzw. Familiensituation
• Geringes Einkommen
• Geringer sozialer Status und mangelhafte soziale Integration.

Risikofaktoren von Herz-Kreislauferkrankungen stehen im Zusammenhang mit der individuellen Lebensgeschichte und Lebensführung.
Dabei ist zu bedenken, dass auch psychosoziale Risiken eine sehr große Rolle spielen. Sie wirken entweder direkt, vermittelt über Angst-, Wut- oder Hilflosigkeitsgefühle, auf das Herz-Kreislaufsystem oder indirekt durch die daraus resultierende Förderung riskanter Verhaltensweisen, wie z.B. in Form von steigendem Zigarettenkonsum unter Dauerstress. Ein ganz anderer entscheidender Risikofaktor ist die mangelnde soziale Integration. Eine gute soziale Integration in ein Netzwerk stabiler, hilfreich und positiv bewerteter Beziehungen wirkt salutogen und bietet Schutz vor koronaren Herzkrankheiten. Deshalb werden soziale Kontaktmöglichkeiten, Vertrauen bildende Maßnahmen, Einüben von Teamarbeit und soziale Kompetenz immer mehr zu wichtigen Ansatzpunkten gesundheitsförderlicher Intervention.
Nachweislich wird außerdem das Risiko, herzkrank zu werden, durch ein Ungleichgewicht zwischen Arbeitseinsatz und Erfolg erhöht. Wer großes Engagement zeigt und dennoch in seiner Karriere nicht weiterkommt oder keine angemessene Anerkennung erhält, nimmt sich dies zu Herzen und läuft Gefahr, an einer Herzkrankheit zu erkranken.